1.1 Krise, sozialer Krieg, Entwertung, Dehumanisierung

1. Es hat auf den ersten Blick derzeit nicht den Anschein, als ob sich die Weltwirtschaft wieder einem Zusammen- bruch nähern könnte. Immerhin wächst die Wirtschaft der Metropolen. Jedenfalls bis jetzt und vielleicht noch länger. Denn ihre Wirtschaft brummt, weil die weltweite Nachfrage vor allem nach Konsum-, weniger nach Investitionsgütern, bisher nicht nachgelassen hat.

Aber der Schein ist trügerisch. Denn die Nachfrage wird weniger aus erarbeiteten Werten gefüttert als aus den Quellen einer unablässig ansteigenden Verschuldung. Verschuldung von privaten Haushalten, Unternehmen, Staaten. Der Gesamtschuldenpegel hat seit der großen Finanzkrise 2008 um drei Viertel zugenommen. Von 97 Billionen (amerikanisch: Trillionen, 1 Trillion sind 1000 Milliarden) Dollar auf 169 Billionen im Jahre 2017 (laut IWF-Global-Debt-Data-Base sogar 184 Billionen). Das sind die Zahlen aus dem McKinsey-Global-Institute (MGI), die es in einem Papier vom Juni 2018 nochmal in seine einzelnen Bestandteile aufgeschlüsselt hat. Diese Entwicklung nimmt inzwischen ein wachsender Chor hochrangiger Beobachter zum Anlass für die Warnun- gen vor einem neuen Crash. So wie der IWF auf seiner Herbsttagung 2018. So wie zur selben Zeit die UN Konferenz für Handel und Entwicklung. Oder die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die internationale Bank der nationalen Zentralbanken, aus der schon vor 2007 wegen der Kredit- bzw. Schuldenblase massive Warnungen vor dem damals bevorstehenden Crash ge- kommen waren. Aus ihm suchten die Zentralbanken der Welt den Ausweg in neuen Wellen der Verschuldung. Sie wurde unter anderem aus regelrecht abenteuerlichen Techniken wie QE (Quantitative Easing, d.h., die Injekti- on von Liquidität in die Finanzmärkte durch Ankauf von Staats- und Unternehmensschuldtiteln) gespeist.

Die Erwartungen der Kreditgeber, dass private Haushalte, Unternehmen und Staaten Schuld- und Zinsforderungen werden bedienen können, verschlechtern sich derzeit zusehends. Kredite werden faul, Anleihen wertlos. Damit verfällt auch die Möglichkeit weiterer Verschuldung, die von Schulden getragene Nachfrage beginnt einzubrechen. Die aus Kreditblasen genährte Akkumulationsdynamik nähert sich dem Absturz in die Überakkumulation, d.h., in die Überproduktion von Produktionsmitteln und damit zugleich in die Überproduktion von Konsumgütern, mit der Folge von Firmenzusammenbrüchen und zuneh- mender Arbeitslosigkeit.

2. Eine genauere Vorstellung vom Charakter der Krise lässt sich allerdings nur gewinnen, wenn man sie als Krise einer Innovationsoffensive begreift, gefüttert aus Tsuna- mis der Verschuldung. So wie die Krise um 1859 die Kri- se der Eisenbahnoffensive war, diejenigen von 1913 und 1929 die Krise der tayloristisch-fordistischen Offensive mit ihrem industriellen Kern im Elektrobereich, so ist die aktuelle Krise diejenige der informationstechnologischen Offensive. Wie ihre historischen Vorgängerinnen zielt der in ihr wirkende technologische Angriff auf die „schöp- ferische Zerstörung“ (Schumpeter) und Entwertung der jeweils tradierten Formen von Arbeiten und Leben. Zugleich zielt er immer auch auf die Intensivierung des Kommandos über die Quellen des Werts in Arbeit und Gesellschaft und auf die Steigerung der Produktivität und Profitabilität. Die Offensive ist damit nicht nur auf eine weltweit wachsende Nachfrage nach den neuen Gütern und Produktionsmitteln angewiesen. Sie muss zugleich die Widerstände und aus den alten Arbeits-, Lebensfor- men und mentalen Einstellungen wirkenden Resistenzen überwinden, die sich zu manifestem Widerstand intensi- vieren können. Sie können sich auch gegen die technolo- gische Arbeitslosigkeit richten, die – wie schon im fordis- tischen Zyklus – mit der Innovationsoffensive einhergeht. Widerstand und Resistenzen haben einen wesentlichen Anteil an der Krise. Krise bedeutet also immer auch die daraus resultierende Blockierung der Offensive.

Die Heftigkeit der gegenwärtigen der Krisendynamik lässt sich schon daraus ablesen, mit welcher Wucht die Innovati- onsoffensive entfesselt wurde. Die amerikanische Zentralbank (Fed) versorgte sie ab Mitte der 1990er Jahre durch ein sehr niedriges Zins- niveau mit Liquidität. Es wurde auch nach dem ersten Absturz im Jahre 2000 weiterhin niedrig gehalten, um die sogenannte „Subprime-Blase“ zu ermöglichen. In ihr wurde das Kreditvolumen durch Hypotheken binnen kurzem so massiv aufgebläht, dass die Blase 2008 platzte mit dem Resultat des globalwirtschaftlichen Zusammen- bruchs. Durch beide Blasen wurden Investitionen in den IT-Bereich zusammen mit der entsprechenden Nachfra- ge derart heftig hochgetrieben, dass der Absicht der Fed entsprechend die amerikanischen IT-Giganten sich nicht nur uneinholbar zur neuen globalen Macht hochtürmten. Zugleich wurde die zuvor bedrohte amerikanische Hege- monie wiederhergestellt und befestigt. Nach dem Crash wurde die Innovationsoffensive durch neue Kreditwellen wiederaufgenommen und in die aktuelle Krisenentwick- lung hineingetrieben.

3. Wann und wie die Krise sich von der Schuldenseite her zuspitzen wird, ist noch nicht ausgemacht. Die Kredit- spielräume sind, seit der Goldstandard aufgegeben wurde und die Begrenztheit des Zahlungsmittels nicht mehr als Verschuldungsbremse wirkt, sehr elastisch geworden. Sie können sicher noch in Maßen erweitert werden und den Zusammenbruch aufschieben. Aber die Symptome sind unübersehbar. Schwellenländer mit hoher externer und interner Verschuldung wie Brasilien, Argentinien, die Türkei, Ägypten, ja der ganze Maghreb, Südafrika, China und andere sind enorm unter Druck, umso mehr, als das Zinsniveau in den USA weiter steigt. Der aktuelle Han- delskrieg, Wettbewerbsabwertungen und Zollkonflikte spiegeln die Verengungen der Absatzmöglichkeiten wi der.

Es ist uns klar, dass die hier zugrunde gelegte Krisenvor- stellung nicht die gesamte Breite des Zusammenhangs von Innovationsoffensive und sozialer Zerstörung behan- delt. Insbesondere auch nicht den Ausdruck, den sie etwa in der sogenannten Klimakatastrophe, Wohnungskrise, Insektenkrise („katastrophischer Kollaps des natürlichen Ökosystems“), der Gesundheitskrise (etwa durch den Siegeszug der resistenten Keime – Hancock: „schlim- mer als der Klimawandel“) gefunden hat. Wir können sie hier nicht behandeln und auch nicht diskutieren, wie sie zusammengelesen werden können. Wir werden in den kommenden Ausgaben darauf zurückkommen.

Kann der Zusammenbruch abgewendet werden? Dazu wäre das Aufkommen von gigantischen Wertmassen erfor- derlich, die die Quellen „fiktiver“, kreditgeschöpfter Wert- mengen ersetzten und die darüberhinausgehenden Erwartungen aufgrund erweiterterProduktion befriedigten. Sie müssten aus Neuunterwerfung von Arbeit, aus neuer und ge- steigerter Inwertsetzung von Arbeit generiert werden, um als Nachfrage wirken zu können. Arbeit, Wert und Waren, die aus Milliarden Menschen neu herausgepresst werden müssten. Die sozialen Auseinandersetzungen, die damit verbunden wären, die also aus der Innovationsoffensive und ihrer Krise resultierten, sind sehr komplex.

Schon die Innovationsoffensive hat im Weltmaßstab, vor allem aber in den afrikanischen, asiatischen und la- teinamerikanischen Peripherien zu einer Entwertung tradierter Arbeitsformen und der damit verbundenen Lebensformen geführt, verbunden mit den Begleiter- scheinungen der Dehumanisierung. Hunderte Millionen werden in den Status der Überflüssigkeit versetzt. Hunderte Millionen sind nicht mehr in der Lage, für ihren täglichen Lebensunterhalt zu sorgen. Hunderte Millionen machen sich auf die Flucht in andere Regionen, Länder, Kontinente. Viele auch in die Zentren des Angriffs, um sich dort zu holen, was ihnen zusteht. Es ist dieses grund- sätzliche Spannungsverhältnis zwischen Metropolen und Peripherien, über das wir nachdenken müssen, wenn wir uns mit den Forderungen der Geflüchteten nach einem menschenwürdigen Leben beschäftigen. Wenn sie ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit, ihr Beharren auf Men- schenwürde mit der steigenden Aggressivität aus den Metropolen ihnen gegenüber konfrontieren.

Die Konfrontation wird an Erbitterung zunehmen, je mehr die Krise die Lebens- und Überlebensbedingungen weiter in Frage stellt. Zugleich wird sich die Krise damit in den Metropolen weiter verschärfen. Wir kennen die- ses Bild aus der Zeit um den Zusammenbruch von 1929. Aufstände in den Peripherien, vor allem in Lateinamerika und Asien antworteten auf die Entwertung der Lebensbe- dingungen und verschärften damit zugleich die Krise in den Metropolen. Die Reaktion aus den Zentren der infra- ge gestellten Innovationsoffensive war äußerst gewaltsam. Vor allem Japan und Nazi-Deutschland griffen mit barbarischen Strategien sozialer Zerstörung und Zurichtung in die Gesellschaften ihrer Peripherien, um Menschen massenhaft in Wert zu setzen und die Krise zu überwinden.

Die Verzögerungen in der Zuspitzung der Krise bringen es mit sich, dass die Konturen des Antagonismus von Resistenzen bzw. Widerstand und Inwertsetzungsangriffen noch nicht deutlich zu erkennen sind. Uns interessiert hier vor allem der Raum, der von Europa über den Nahen Osten nach Afrika reicht. Die innerafrikanischen und über den Maghreb bis nach Europa reichenden Migra- tionsbewegungen gehören in ihrer Reaktion auf die mit dem Innovationsangriff verbundenen Entwertungen und Zerstörungen zu den Formen des Widerstands. Sie tragen Vorstellungen von einer gerechten Welt, letztlich auch aus der „moralischen Ökonomie“ der Dorfgemeinschaften mit sich und bis in die Metropolen. Die Arabellion zielte nicht nur auf Befreiung vom diktatorischen Joch, sondern auch auf ein besseres Leben. Trotz ihres Scheiterns sind ihre Quellen nicht versiegt. Symptom sind auch die islamistischen Bewegungen, deren Eliten den Unmut für sich zu nutzen versuchen. Die europäische Politik beginnt in ihrer Afrikapolitik, die Abwehr und Eindämmung der Migrationsbewegungen mit Inwertsetungsstrategien zu verknüpfen. Ihre Konturen werden in dieser Ausgabe behandelt.

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